U. Germann: Kampf dem Verbrechen

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Titel
Kampf dem Verbrechen. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform in der Schweiz 1870–1950


Autor(en)
Germann, Urs
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Eva Keller

Die Geschichte der Schweizerischen Strafrechtsgesetzgebung fristete in der historischen Forschung bisher ein Schattendasein. Diesem Umstand will Urs Germann mit Kampf dem Verbrechen Abhilfe schaffen. Er geht darin der langwierigen Entstehungsgeschichte des ersten Schweizerischen Strafgesetzbuches von 1942 nach, dessen Wurzeln ins ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichen. Unter verschiedenen Gesichtspunkten setzt sich Germann im vorliegenden Werk mit den kriminalpolitischen und strafrechtstheoretischen Prozessen auseinander, die den Gesetzgebungsprozess prägten und deren Ergebnisse in das Strafgesetzbuch einflossen. Dabei – und das ist eine der grossen Leistungen des Buches – liegt der Fokus keineswegs nur auf der Schweiz, sondern auch auf den internationalen Diskursen der Strafrechtsreform und ihrem Einfluss auf die nationale Kodifikation. Ohne dabei die staatspolitischen Logiken und Abhängigkeiten ausser Acht zu lassen, zeichnet Germann so die starke internationale Verflechtung der Strafrechtsexperten nach.

Folgerichtig setzt die Studie bereits mit den im frühen 19. Jahrhundert geführten Prozessen und Debatten rund um Strafrecht und -vollzug ein. So legt der Autor die Entwicklung der rechtstheoretischen Debatten hin zum auf Rationalität und Effizienz beruhenden bürgerlich-liberalen Strafverständnis dar, um sich dann den disziplinarischen Ansätzen der jungen Gefängniskunde zuzuwenden. Hier betont Germann insbesondere das Fortbestehen des Dualismus von Straf- und Verwaltungsrecht, das die Wegsperrung unerwünschter Personen nicht nur weiterhin ermöglichte, sondern weiterentwickelte und förderte. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels liegt sodann auf der Rolle gemeinnütziger Vereine für Straffälligen- und Entlassenenfürsorge, dies sowohl auf einer praktischen Ebene als auch als Diskursraum. Nachdem damit ein Rahmen für die nachfolgenden Ausführungen geschaffen ist, beginnt die eigentliche Auseinandersetzung mit der Entstehung des Schweizerischen Strafgesetzbuches. In einem ersten Schritt widmet sich die Studie den internationalen Reformbewegungen. Versiert führt Germann durch Expertendebatten zur Strafrechts- und Gefängnisreform, die er immer wieder in ein Verhältnis zur Schweiz und zu schweizerischen Akteuren wie Carl Stooss, Emil Zürcher oder auch Louis Guillaume stellt. Dabei kommt auch die Reziprozität der Wissenszirkulation zur Sprache; so beispielsweise die internationale Rezeption des schweizerischen Konzepts eines Nebeneinanders von Straf- und Massnahmenvollzug im frühen 20. Jahrhundert. Überhaupt macht Germann hier deutlich, dass beim internationalen Strafrechtsreformdiskurs keineswegs von einem Top-down-Prozess gesprochen werden kann – vielmehr bedingten und verstärkten sich nationale und internationale Prozesse gegenseitig. Dementsprechend muss auch die Frage der Übernahme internationaler Ideen im nationalen Rahmen kritisch betrachtet werden. So prägte zwar die internationale Reformbewegung fraglos den schweizerischen Gesetzgebungsprozess in hohem Masse mit, gleichzeitig gilt es jedoch die kantonalen, über Jahrzehnte gewachsenen, Vollzugslogiken – auch ausserhalb des eigentlichen Strafvollzugs – nicht ausser Acht zu lassen. Ihnen, den Rettungs- und Erziehungsanstalten sowie den zugrundeliegenden Verbrecherbildern und Präventionskonzepten widmet Germann das folgende Kapitel. Ausgehend vom Bild der «Kriminalität als Krankheit der Gesellschaft» (S. 105) zeichnet er nach, wie sozial- und kriminalpolitische Konzeptionen mit unterschiedlichen disziplinarischen, psychiatrischen und repressiven Ansätzen aufeinandertrafen und in ein sozialregulatives Strafrechtsregime mündeten, in welchem kaum mehr zwischen Prävention und Repression unterschie- den werden konnte.

Erst die Analyse dieser Prozesse und ihre Kombination mit den Einflüssen der vorher behandelten transnationalen Wissenszirkulation erlauben ein Verständnis der Entstehung dessen, was Germann als «Programm der ‹sozialen Verteidigung›» (S. 197) bezeichnet: Eine umfassende neue Kriminal- und Strafvollzugspolitik, die einen veränderten gesellschaftlichen Umgang mit Kriminalität anstrebte. Einen Umgang, der von einem Konglomerat sichernder, präventiver und repressiver Massnahmen geprägt war und seinen Niederschlag in der stark sozialregulativen Ausrichtung des Schweizerischen Strafgesetzbuches fand. Der Implementierung dieser neuen kriminalpolitischen Konzeption im Rahmen des föderalistischen und direktdemokratischen Systems der Schweiz ist schliesslich das fünfte Kapitel gewidmet. Hier wird erneut die grundlegende Ambivalenz dieser kriminalpolitischen Logiken deutlich, die stets zwischen Abmilderung und Verschärfung oszillierten.

So bietet Kampf dem Verbrechen eine umfassende und ansprechende Analyse verschiedener Aspekte der Entstehung der ersten nationalen Strafrechtskodifikation der Schweiz. Damit schliesst Germann nicht nur eine Forschungslücke, sondern bietet auch neue Perspektiven auf Relevanz und Funktion transnationaler Austauschprozesse im Bereich des Strafrechts. Darüber hinaus sind die detaillierten Auseinandersetzungen mit einzelnen Experten und ihren Überzeugungen sowie mit den existierenden kantonalen Strafrechts- und Vollzugslogiken positiv hervorzuheben.

Zitierweise:
Eva Keller: Rezension zu: Urs Germann, Kampf dem Verbrechen. Kriminalpolitik und Strafrechtsreform in der Schweiz 1870–1950, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 466-467.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 3, 2016, S. 466-467.

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